Netanjahu muss zwischen Regierungssturz und Stillstand wählen Israel: das spielt sich ab
27. März 2023Israels umstrittene Justizreformen haben das Land in zwei Teile gespalten wie das Rote Meer in der biblischen Geschichte von Moses. Premierminister Benjamin Netanjahu steht unter starkem Druck, die Reformen abzubrechen, doch damit setzt er seine Regierungskoalition (und damit seine eigene Position) aufs Spiel.
Nach den Plänen der Rechtskoalition würde der Oberste Gerichtshof Israels weniger Einfluss haben. Außerdem müsste die Ernennung aller Richter von der Knesset, dem israelischen Parlament, genehmigt werden. Dort haben Netanjahus Likud-Partei und ihre Koalitionspartner seit den Wahlen im November eine Mehrheit.
Netanjahu argumentiert, dass die Reformen dafür sorgen werden, dass das „Gleichgewicht“ zwischen Justiz und Parlament wiederhergestellt wird. Die Gegner sind dagegen der Meinung, dass dieses Gleichgewicht viel zu sehr in Richtung Parlament kippen würde. Die Reformen würden die Unabhängigkeit der Judikative aushöhlen.
Verteidigungsminister Yoav Gallant wurde am Sonntag von Netanjahu entlassen. Gallant hatte sich einen Tag zuvor in einer Fernsehansprache kritisch zu den angekündigten Reformen geäußert. Dies ist besonders pikant, weil er ein Parteikollege Netanjahus ist.
Gallant, selbst ehemaliger Soldat, hatte am Samstag unter anderem erklärt, die israelischen Streitkräfte seien verärgert und enttäuscht über die vorgeschlagenen Änderungen im Justizwesen.
Gallants erzwungener Abgang löste eine Welle des Protests in allen Gesellschaftsschichten aus. Seit Monaten protestieren israelische Bürger fast täglich gegen die Politik der Regierung. Nach dem Rücktritt von Gallant flammten diese Proteste weiter auf.
Am Sonntagabend gingen Zehntausende von Israelis auf die Straße, um zu protestieren. Unter anderem in Jerusalem und Tel Aviv setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um Demonstranten zurückzudrängen und entfachte Brände zu löschen.
Auch heute finden Proteste statt. Vor dem Parlamentsgebäude in Jerusalem stehen Tausende von Demonstranten. In den sozialen Medien verkünden die Demonstranten, dass sie zum Haus von Netanjahu gehen wollen.
Es wird erwartet, dass der Premierminister heute eine Rede hält, in der er eine vorübergehende Aussetzung der Reformen ankündigt. Diese Rede wurde bereits mehrmals verschoben.
Politisch befindet sich Netanjahu in einer unangenehmen Zerrissenheit. Auch in seiner eigenen Partei sind nicht alle mit den Plänen einverstanden. Der Rücktritt von Gallant hat die Beziehungen weiter belastet. Unterdessen üben führende Politiker zunehmend Kritik an Netanjahus Politik im Allgemeinen und an den geplanten Justizreformen im Besonderen.
Staatspräsident Isaac Herzog forderte Netanjahu am Montagmorgen auf, die Reformen nicht voranzutreiben. Über Twitter wandte er sich persönlich an den Premierminister. „Die Augen des israelischen Volkes und des jüdischen Volkes in der ganzen Welt sind auf Sie gerichtet. Um des Volkes willen fordere ich Sie auf, den Reformprozess sofort zu stoppen.“
Oppositionsführer Yair Lapid forderte Netanjahu auf, die Entlassung Gallants rückgängig zu machen. „Gallant wurde entlassen, weil er die Wahrheit gesagt hat. Er hat niemanden bedroht, er hat die Menschen nur vor dieser Regierung gewarnt, die den Blick für die Realität verloren hat“, sagte der ehemalige Premierminister. Lapid führte die Gruppe von Parteien an, die im Juni 2021 eine unwahrscheinliche Koalition bilden konnten. Damit stand Netanjahu nach 12 Jahren ohne Premierminister da.
Koalitionsverbündete Netanjahus drohen sogar damit, die Regierung zu verlassen, wenn die Reformen nicht durchgeführt werden. Der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir schrieb auf Twitter, die Regierung dürfe nicht „der Anarchie erliegen“. Ben-Gvir ist der Vorsitzende von Otzma Yehudit, einem der wichtigsten Verbündeten des Likud.
Justizminister Yariv Levin warnte, dass ein Abbruch der Reformen „direkt zum Sturz der Regierung und zum Zusammenbruch des Likud führen könnte“. Damit bezog er sich auf seine eigene Partei: Levin ist ein Parteikollege von Netanjahu. Der Minister sagte jedoch, er werde jede Entscheidung des Ministerpräsidenten respektieren.
Netanjahu scheint also vor der Wahl zu stehen zwischen dem Sturz seiner Regierung und dem völligen Stillstand des Landes. Kurz vor der Rede Netanjahus drohte der größte Gewerkschaftsverband mit einem Generalstreik.
Nach Angaben des Vorsitzenden Arnon Bar-David ruft der Gewerkschaftsbund Histadrut alle seine Mitglieder auf, die Arbeit niederzulegen, wenn die Reformen nicht gestrichen werden. Die Histadrut vertritt u. a. Fabrikarbeiter und Ladenbesitzer.
Am Ben-Gurion-Flughafen, dem größten Flughafen des Landes, wurden fast unmittelbar nach Bar-Davids Ankündigung alle abgehenden Flüge gestrichen. Die Beschäftigten des Flughafens fallen ebenfalls unter die gewerkschaftliche Organisation der Gewerkschaften. Das Gleiche gilt für das Hafenpersonal. In den beiden größten Häfen des Landes, Haifa und Ashdod, wurden Menschen entlassen.
Krankenhauspersonal, Bankangestellte und lokale Verwaltungsangestellte haben ebenfalls angekündigt, sich dem Streik anzuschließen, wenn die Reformen nicht durchgeführt werden.